Wegweisendes Urteil zur Zeitarbeit

Der EuGH hat am 15.12.2022 ein wegweisendes Urteil (Az.: C-311/21) für die gesamte Zeitarbeitsbranche erlassen. Damit gab der EuGH wesentliche Arbeitsbedingungen für diese Branche vor, die weitreichende Auswirkungen für die Praxis haben können.

Sind das deutsche Arbeitnehmerüberlassungsgesetz bzw. die Zeitarbeits-Tarifverträge europarechtskonform?

Grundsätzlich regelt das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, dass Leiharbeitnehmer*innen im Betrieb des Entleihers für die Zeit der Überlassung die geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen wie für einen vergleichbaren Beschäftigten des Entleihers gewährt werden müssen (§ 8 Abs. 1 AÜG). § 8 Abs. 2 AÜG sieht die Möglichkeit vor, dass von diesem Gleichbehandlungsgrundsatz abgewichen werden kann, wenn zwischen Personaldienstleister und Zeitarbeitnehmer*in die Tarifverträge der Zeitarbeit (BAP/DGB oder iGZ/DGB) Anwendung finden. Im zugrunde liegenden Rechtsstreit wurde von einer Zeitarbeitnehmerin geltend gemacht, dass die gesetzliche Regelung sowie die Tarifverträge nicht europarechtskonform seien. Die Zeitarbeitnehmerin war befristet beschäftigt und erhielt einen geringeren Stundenlohn als die Stammmitarbeiter des entleihenden Unternehmens.

AÜG ist europarechtskonform

Der EuGH hat zunächst entschieden, dass das AÜG europarechtskonform ist. Gleichzeitig sei aber eine Einzelfallprüfung notwendig, ob die Zeitarbeitstarifverträge in ihrer Gesamtheit mit dem Niveau der Arbeits- und Entgeltbedingungen des jeweiligen Entleihers vergleichbar sind. Ist dies nicht der Fall, finde der Gleichbehandlungsgrundsatz Anwendung und nicht die Tarifbedingungen.

Differenzierung zwischen unbefristeten und befristeten Arbeitsverträgen

Bei der Einzelfallprüfung komme es auch darauf an, ob Zeitarbeitnehmer*innen befristet oder unbefristet beschäftigt sind. Denn im Gegensatz zu befristet Beschäftigten erhalten unbefristet Beschäftigte die Rechte und Leistungen aus dem jeweiligen Zeitarbeitstarifvertrag auch in verleihfreien Zeiten. Sie sind somit abgesichert. Das „weniger“ in Einsatzzeiten werde durch das „mehr“ in verleihfreien Zeiten ausgeglichen. In diesem Fall könne der Tarifvertrag dann auch hinter den Arbeits- und Entgeltbedingungen der Branche des Entleihers zurücktreten.

Bei befristet Beschäftigten sieht der EuGH das hingegen anders. Hier müsse jedes „weniger“ des Zeitarbeitstarifvertrags gegenüber der Entleiherbranche durch ein „mehr“ an anderer Stelle ausgeglichen werden. Bei weniger Lohn müsse der Tarifvertrag beispielsweise mehr Urlaub vorsehen.

Praxistipp:

Die Entscheidung des EuGH hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf die deutschen Zeitarbeitsunternehmen, da es sich nur um ein sog. Vorabentscheidungsverfahren handelte. Es bleibt daher die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts abzuwarten. Um jedoch nachteilige Konsequenzen zu vermeiden, sollten Arbeitsverträge mit Zeitarbeitnehmer*innen nicht mehr befristet abgeschlossen werden.

Verfahrensgang:

EuGH, Urteil vom 15.12.2022, Az.: C-311/21

BAG, EuGH-Vorlage vom 16.12.2020, Az.: 5 AZR 143/19(A)

LAG Nürnberg, Urteil vom 07.03.2019, Az.: 5 Sa 230/18

ArbG Würzburg, Urteil vom 08.05.2018, Az.: 2 Ca 1248/17

Stand: 08.03.2023

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Haften Geschäftsführer*innen auf Zahlung des Mindestlohns?

Geschäftsführer*innen einer GmbH haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft ihren Beschäftigten Mindestlohn zahlt. Doch haften Geschäftsführer*innen auch gegenüber den Beschäftigten direkt, wenn diese keinen Mindestlohn erhalten? Dies entscheidet in Kürze das Bundesarbeitsgericht, nachdem zwei Landesarbeitsgerichte hierzu unterschiedlicher Meinung waren. In beiden Fällen hat ein Arbeitnehmer den Geschäftsführer einer zahlungsunfähigen GmbH in Anspruch genommen, nachdem ihm kein Lohn mehr gezahlt wurde.

Der Geschäftsführer haftet, so das Sächsische LAG

Im ersten Fall hat das Sächsische LAG mit Urteil vom 17.09.2019, 1 Sa 77/19, die Haftung des Geschäftsführers bejaht. § 1 MiLoG sei ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB. Verletze der Geschäftsführer die Pflicht, den Mindestlohn an den Arbeitnehmer auszuzahlen, so hafte er für die geleisteten Arbeitsstunden in Höhe des derzeit geltenden Mindestlohnsatzes.

Keine Haftung des Geschäftsführers nach dem Thüringer LAG

Anders sieht dies das Thüringer LAG in einem aktuelleren Fall (Urteil vom 09.02.2022, 4 Sa 223/19) und verneint einen Anspruch gegen den Geschäftsführer. Zum einen sei die Zahlung des Mindestlohns eine gesetzliche Pflicht, welche lediglich die Gesellschaft als Arbeitgeberin treffe. Zum anderen hafte der Geschäftsführer auch nicht gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 1 MiLoG, denn im vorliegenden Fall sei der Schutzzweck nicht gegeben. Das Mindestlohngesetz soll angemessene Arbeitsbedingungen sicherstellen und schütze deshalb vor der Zahlung unangemessen niedriger Löhne. Es schütze hingegen nicht den Arbeitnehmer vor einem gesamten Lohnausfall. Einen solchen habe der Arbeitnehmer aber gegenüber dem Geschäftsführer geltend gemacht.

Die Nichtzahlung oder nicht rechtzeitige Zahlung von Mindestlohn kann für den Geschäftsführer zwar eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 9 Abs. 1 OWiG  i.V.m. § 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG  nach sich ziehen. Hier werde aber nach Ansicht des Thüringer LAG  nur eine Strafbarkeitslücke und keine mögliche Haftungslücke geschlossen. Daher begründet auch die Ordnungswidrigkeit keinen Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB.

Nun wird das Bundesarbeitsgericht hierzu eine Grundsatzentscheidung treffen. Die Revision ist dort unter dem Aktenzeichen 8 AZR 120/22 anhängig. Die Entscheidung wird für den 30.03.2023 erwartet.

Verfahrensgang:

BAG, anhängig unter 8 AZR 120/22, Entscheidung erwartet am 30.03.2023

LAG Thüringen, Urteil vom 09.02.2022, Az.: 4 SA 223/19

ArbG Gera, Urteil vom 12. Juni 2019, Az.: 1 Ca 66/18

Stand: 18.01.2023

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Keine Familienpflegezeit im Blockmodell

Die Auslegung von § 2 Abs. 1 S. 2 FPfZG  ergibt, dass dieser einen Anspruch auf Familienpflegezeit im “Blockmodell” nicht vorsieht. Für eine Aufteilung in Phasen von Vollarbeit und vollständige Freistellung besteht kein Rechtsanspruch, so das Arbeitsgericht Bonn am 27.04.2022 (Az.: 4 Ca 2119/21) .

Werden Angehörige pflegebedürftig, ist es für Beschäftigte oft eine schwierige Situation, die häusliche Pflege und den Beruf vereinbaren zu können. Um die Bedingungen für pflegende Angehörige zu erleichtern, hat der Gesetzgeber das Modell der Pflegezeit und das der Familienpflegezeit geschaffen. Während einer Pflegezeit können sich Beschäftigte bis zu sechs Monate vollständig von der Arbeit freistellen lassen. Im Rahmen der Familienpflegezeit besteht die Möglichkeit, die individuelle Arbeitszeit für bis zu 24 Monate zu verringern, sich also teilweise freistellen zu lassen. Eine Entscheidung, ob diese teilweise Freistellung auch im sog. Blockmodell, d.h. mit einer zeitweiligen vollständigen Freistellung von der Arbeit, möglich ist, hatte das Arbeitsgericht Bonn (Urteil, vom 27.04.2022, Az.: 4 Ca 2119/21 ) zu treffen.

Verteilung der Familienpflegezeit auf Zeitabschnitte?

Die Mutter des Arbeitnehmers ist pflegebedürftig (Pflegegrad der Stufe 2). Aus diesem Grund kündigte der Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber die beabsichtigte Familienpflegezeit vom 01.01.2022 bis 31.12.2023 an. Die Verteilung sollte wie folgt sein: Vom 01.01.2022 bis zum 20.05.2022 wollte der Arbeitnehmer in Vollzeit arbeiten. Vom 21.05.2022 bis zum 13.08.2023 begehrte der Arbeitnehmer eine vollständige Freistellung von seiner Arbeitsleistung und in der Zeit vom 14.08.2023 bis zum 31.12.2023 eine weitere Beschäftigung in Vollzeit.

Familienpflegezeit nach § 2 FPfZG

Gemäß § 2 Abs. 1 FPfZG  sind Beschäftigte von der Arbeitsleistung für längstens 24 Monate (Höchstdauer) teilweise freizustellen, wenn sie einen pflegebedürftigen nahen Angehörigen in häuslicher Umgebung pflegen (Familienpflegezeit). Nach Satz 2 der Vorschrift muss die verringerte Arbeitszeit während der Familienpflegezeit wöchentlich mindestens 15 Stunden betragen.

Keine Familienpflegezeit im Blockmodell

Das Arbeitsgericht Bonn hat in diesem konkreten Fall entschieden, dass der Arbeitnehmer zwar grundsätzlich Anspruch auf Familienpflegezeit habe, aber nicht im gewünschten Blockmodell. Zu diesem Ergebnis kam das Gericht nach einer Auslegung der Anspruchsgrundlage.

Der Wortlaut des § 2 Abs. 1 S. 1 FPfZG  spreche von einer teilweisen Freistellung und einer verringerten Arbeitszeit von wöchentlich mindestens 15 Stunden. Bei lebensnaher Betrachtung seien beide Formulierungen ein Indiz dafür, dass eine vollständige Freistellung von der Arbeit im Blockmodell nicht beabsichtigt war.

Auch Beschäftigte mit wöchentlich variierenden Arbeitszeiten können Familienpflegezeit in Anspruch nehmen. § 2 Abs. 1 S. 3 FPfZG enthält für diesen Fall die Regelung, dass eine Durchschnittsbetrachtung vorzunehmen ist. Hieraus lasse sich nach Ansicht des Gerichts wiederum der Rückschluss ziehen, dass es in allen übrigen Fällen, in denen Beschäftigte eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit erbringen, gerade nicht auf die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit über einen längeren Zeitraum ankomme, sondern dass die Arbeitszeit pro Woche mindestens 15 Stunden betragen müsse.

Darüber hinaus hätte es der Unterscheidung zwischen teilweiser oder vollständiger Freistellung in § 3 Abs. 1 S. 1 PflegeZG nicht bedurft, wenn die Bestimmungen in § 3 Abs. 1 S. 1 PflegeZG und § 2 Abs. 1 S. 1 FPfZG die gleiche Rechtsfolge hätten.

Zudem wäre dann auch die aus Anlass der Covid-19 Pandemie eingeführte Sonderregelung in § 16 FPfZG nicht notwendig gewesen, nach der die wöchentliche Mindestarbeitszeit von 15 Wochenstunden vorübergehend unterschritten werden durfte.

Schließlich sei Sinn und Zweck des Gesetzes, dass Beschäftigte weiterhin am Arbeitsleben teilhaben und Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung haben. Arbeitgeber könnten im Gegenzug weiterhin auf die Kompetenz und Erfahrung der Beschäftigten zurückgreifen.

Praxistipp:

Die Auslegung des Arbeitsgerichts ist überzeugend und ein wichtiger Wegweiser für Arbeitgeber, deren Beschäftigte Familienpflegezeit in Anspruch nehmen wollen. Denn beim sogenannten Blockmodell würden sich für Arbeitgeber sowie für Beschäftigte nicht unerhebliche Risiken hinsichtlich der Sozialversicherung und des Arbeitsentgelts ergeben, für Arbeitgeber insbesondere dann, wenn diese in Vorleistung gehen. Zudem ist eine Insolvenzsicherung, wie im Rahmen der Altersteilzeit, bei der Familienpflegezeit nicht vorgesehen.

Stand: 17.01.2023

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Arbeitgeber trifft bei Bewilligung von Kurzarbeitergeld die Pflicht zur Interessenwahrung

Arbeitgeber sind verpflichtet im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren über die Bewilligung von Kurzarbeitergeld die Interessen der betroffenen Arbeitnehmer zu wahren. Kommt der Arbeitgeber dieser Pflicht nicht nach, kann er sich nach § 280 Abs. 1 S. 1 BGB schadensersatzpflichtig machen. Das hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 26.08.2022 (Az.: 12 Sa 297/22) gerichtlich festgestellt.

Fehlerhafte Angaben bei der Beantragung von Kurzarbeitergeld (KUG)

Zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer war eine monatliche Arbeitszeit von mindestens 100 Stunden vereinbart. Der Arbeitnehmer leistete aber regelmäßig deutlich mehr Stunden, nämlich zwischen 100 und 190 Stunden pro Monat. Zu Beginn der Coronapandemie führte der Arbeitgeber Kurzarbeit ein, wovon auch der Arbeitnehmer betroffen war. Der Arbeitgeber legte bei der Berechnung des Kurzarbeitergelds die nach seiner Auffassung vertraglich vereinbarte Arbeitszeit von 100 Stunden monatlich zugrunde.

Der Arbeitnehmer klagte daraufhin vor dem Arbeitsgericht auf Schadensersatz, da er der Ansicht war, sein Arbeitgeber habe unzutreffende Angaben zur Arbeitszeit bei der Bundesagentur für Arbeit gemacht.

Schadensersatz bei schuldhafter Pflichtverletzung des Arbeitgebers

Aus dem Arbeitsverhältnis entstammt die Nebenpflicht des Arbeitgebers, im Verwaltungsverfahren über die Bewilligung von Kurzarbeitergeld die Interessen der von Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmer zu wahren. Wird diese Pflicht vom Arbeitgeber schuldhaft verletzt, kann er sich schadensersatzpflichtig machen, so das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 26.08.2022 [Az.: 12 Sa 297/22]).

Welche Pflichtverletzungen kann der Arbeitgeber hierbei begehen?

Kein eigenes Antrags- oder Klagerecht des Arbeitnehmers bei Kurzarbeitergeld (KUG)

Das Kurzarbeitergeld ist zwar ein Anspruch des Arbeitnehmers (§ 95 SGB III ). Es ist aber Aufgabe des Arbeitgebers, das Kurzarbeitergeld zu beantragen, zu errechnen und auszuzahlen (§§ 320 Abs. 1 S. 2 , 323 Abs. 2 S. 1 SGB III ) sowie für den Arbeitnehmer geltend zu machen. Der Arbeitnehmer hat im Verwaltungsverfahren bzw. im sozialgerichtlichen Verfahren kein eigenes Antrags- oder Klagerecht wegen der Bewilligung von höherem Kurzarbeitergeld.

Stattdessen wird der Arbeitgeber bei der Antragstellung und in einem etwaigen Rechtsmittelverfahren wegen der Bewilligung von Kurzarbeitergeld treuhänderisch für den Arbeitnehmer tätig. Aufgrund dieser treuhänderischen Stellung treffen den Arbeitgeber im Rahmen der Beantragung von Kurzarbeitergeld die in § 320 Abs. 1 SGB III genannten Pflichten. Ein Schadensersatzanspruch der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber kommt mithin in Betracht, wenn dem Arbeitgeber in diesem Pflichtenkreis von ihm zu vertretende Pflichtverletzungen unterlaufen.

Praxistipp:

Der Arbeitnehmer wird im Sozialverwaltungsverfahren und im sozialgerichtlichen Verfahren nicht beteiligt, wenn Ansprüche auf Kurzarbeitergeld geltend gemacht werden sollen. Die Verfahren führt der Arbeitgeber. Für Arbeitgeber ist es daher umso wichtiger, die ergangenen Bescheide der Bundesagentur für Arbeit zur Kurzarbeit nicht ohne weitere Prüfung durchzuwinken, sondern die Beantragung und Berechnung sowie auch die Bewilligung von Kurzarbeitergeld gewissenhaft durchzuführen und zu prüfen.

Durch unsere jahrelange Erfahrung als Steuerbüro mit eigener Lohnabteilung und unsere auf Arbeitsrecht spezialisierten Rechtsanwältinnen stehen wir Ihnen als kompetenter Ansprechpartner bei allen Fragen rund ums Thema Kurzarbeitergeld zur Verfügung.

Verfahrensgang:

Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt unter dem Aktenzeichen 8 AZN 618/22

LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26.08.2022, Az.: 12 Sa 297/22 

ArbG Berlin, Urteil vom 02.02.2022, Az.: 29 Ca 7423/20

Stand: 14.12.2022

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Neuerungen für Arbeitgeber ab 2023

Das Jahr 2023 beginnt mit einigen Neuerungen, welche auf Arbeitgeber*innen zukommen. Wir haben die Wichtigsten kurz in alphabetischer Reihenfolge für Sie zusammengefasst:

Arbeitszeiterfassung

Nachdem das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 13.09.2022 bestätigte, dass Arbeitgeber*innen schon heute verpflichtet sind, Lage, Beginn, Dauer und Ende von Arbeitszeiten tatsächlich zu erfassen, gilt es, diese Entscheidung umzusetzen. Die bloße Bereitstellung eines Zeiterfassungssystems reicht dafür nicht aus. Das bereitgestellte System muss auch tatsächlich verwendet und genutzt werden. Weitere Einzelheiten hierzu können Sie unserem Fachbeitrag zum Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitszeiterfassung entnehmen.

Bescheinigungen für die Arbeitsagentur

Arbeitgeber*innen, die ab diesem Jahr Arbeitsbescheinigungen sowie Bescheinigungen über Nebeneinkommen an die Agentur für Arbeit übermitteln wollen, können dies nur noch elektronisch veranlassen und zwar unabhängig von Größe und Branche des Unternehmens. Ausnahmen bestehen nur für Arbeitsverhältnisse die vor dem Jahr 2023 ihr Ende gefunden haben sowie für vor 2023 zu bescheinigende Nebeneinkommen.

Einkommensteuertarif

Für das Jahr 2023 wurden zur Abmilderung von Steuermehrbelastungen die Eckwerte im Einkommensteuertarif angepasst. Dazu wurden der Grundfreibetrag auf EUR 10.908,00 und der Kinderfreibetrag auf EUR 8.952,00 angehoben. Der Freibetrag für den Solidaritätszuschlag liegt nunmehr für Alleinstehende bei EUR 17.543,00 und bei EUR 35.086,00 bei Zusammenveranlagung bzw. Steuerklasse III. Der Spitzensteuersatz beträgt 2023 EUR 62.810,00 jährlich.

Elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Ab 2023 können Arbeitsunfähigkeitsdaten von Arbeitnehmer*innen bis auf wenige Ausnahmen nur noch elektronisch bei den Krankenkassen abgerufen werden. Detailliertere Hinweise finden Sie auch in unserem Fachbeitrag zur Elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU).

Bemessungsgrößen Sozialversicherung

Die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung wurde zum 01.01.2023 auf EUR 59.850,00 jährlich festgesetzt. Dies entspricht einem monatlichen Einkommen von EUR 4.987,50 brutto. Auch die Grenze, bis zu welcher Arbeitnehmer*innen gesetzlich krankenversichert sein müssen (Versicherungspflichtgrenze), wurde angehoben und zwar auf EUR 66.600,00 jährlich, mithin EUR 5.550,00 monatlich.

Für die allgemeine Rentenversicherung wurde die Beitragsbemessungsgrenze auf monatlich EUR 7.100,00 in den neuen Bundesländern und auf EUR 7.300,00 in den alten Bundesländern angehoben. In der knappschaftlichen Rentenversicherung liegt die Einkommensgrenze nunmehr monatlich bei EUR 8.700,00 in den neuen und bei EUR 8.950,00 in den alten Bundesländern.

Hinweisgeberschutzgesetz

Voraussichtlich ab April 2023 wird das Hinweisgeberschutzgesetz in Kraft treten. Unternehmen ab 250 Beschäftigten sowie Finanzdienstleister müssen mit Inkrafttreten des Gesetzes eine interne Meldestelle eingerichtet haben, an welche Hinweise auf rechtliche Verstöße herangetragen werden können. Ab 17.12.2023 ist dies auch für Unternehmen ab 50 Mitarbeitern verpflichtend.

Hinzuverdienstgrenze bei vorgezogenen Altersrenten

Der Bundestag beschloss am 02.12.2022, die Hinzuverdienstgrenze bei vorgezogenen Altersrenten ersatzlos zu streichen. Frührentner*innen können demnach ab dem 01.01.2023 beliebig viel hinzuverdienen, ohne dass die Rente gekürzt wird. Bei Bezieher*innen von Erwerbsminderungsrenten steigt die Hinzuverdienstgrenze und kann je nach Einzelfall bis zu EUR 35.650,00 pro Jahr betragen.

Inflationsausgleichsprämie

Rückwirkend ab Oktober 2022 können Arbeitgeber*innen allen Mitarbeitenden zur Abmilderung der Inflationsauswirkungen eine steuerfreie Prämie zahlen. Diese ist auf maximal EUR 3.000,00 gedeckelt und kann bis zum 31.12.2024 auch in Teilbeträgen gezahlt werden. Weitere Einzelheiten hierzu finden Sie in unseren aktuellen Nachrichten zur Inflationsausgleichsprämie.

Kurzarbeitergeld

Bis Ende Juni 2023 ist es möglich, Kurzarbeitergeld zu erhalten, wenn mindestens 10% der beschäftigten Personen einen Arbeitsausfall von mehr als 10% haben. Dabei müssen keine negativen Arbeitszeitsalden aufgebaut werden. Diese Erleichterungen sind auch für Unternehmen möglich, die ab Oktober 2022 Kurzarbeit angezeigt haben oder nach mind. 3monatiger Unterbrechung wieder Kurzarbeit anzeigen müssen.

Lohnsteuerbescheinigung

Ab 2023 dürfen elektronische Lohnsteuerbescheinigungen nur noch mit der Steuer-Identifikationsnummer der Arbeitnehmer*innen an das Finanzamt übermittelt werden. Die bisherige eTIN fällt ab diesem Jahr weg.

Midijobs

Die Höchstgrenze für eine Beschäftigung im Übergangsbereich (sog. Midijob) wird ab Januar 2023 auf EUR 2.000,00 monatlich angehoben.

Pflegezeit

Eltern und pflegende Angehörige haben in Unternehmen mit mehr als 15 Beschäftigten Anspruch auf Pflegezeit nach dem Pflegezeitgesetz und in Unternehmen mit mehr als 25 Beschäftigten Anspruch auf Familienpflegezeit nach dem Familienpflegezeitgesetz.

Mit dem Gesetz zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige können nunmehr auch Arbeitnehmer*innen in Unternehmen mit weniger Beschäftigten die Inanspruchnahme von Pflegezeit bzw. Familienpflegezeit beantragen. Arbeitgeber*innen müssen nunmehr unabhängig von der Betriebsgröße innerhalb von 4 Wochen darauf reagieren und im Fall der Ablehnung diese begründen.

Dies gilt auch für Anträge auf flexible Arbeitszeitregelungen in der Elternzeit. Nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz besteht ein Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit zwar noch immer nur in Unternehmen mit mehr als 15 Arbeitnehmer*innen. Allerdings sind nunmehr auch kleinere Unternehmen verpflichtet, die Ablehnung eines entsprechenden Antrags zu begründen.

Sachbezugswerte für Unterkunft und Verpflegung

Auch die Sachbezugswerte für freie Unterkunft und Verpflegung wurden ab 2023 angepasst. Damit beträgt das zu berücksichtigende Arbeitsentgelt für die verbilligte oder unentgeltliche Verpflegung monatlich EUR 288,00. Dies entspricht jeweils EUR 2,00 für ein Frühstück und EUR 3,80 für ein Mittag- oder Abendessen je Kalendertag.

Der Sachbezugswert für eine Unterkunft wurde auf EUR 265,00 monatlich festgesetzt.

Unternehmensnummer in der Berufsgenossenschaft

Die bisherige Mitgliedsnummer wird zum 01.01.2023 durch eine 15stellige Unternehmensnummer ersetzt. Die Berufsgenossenschaften haben ihre Mitglieder im Jahr 2022 bereits entsprechend informiert. Sofern noch nicht geschehen, bitten wir unsere Mandanten um Mitteilung der Unternehmensnummer, da diese für die Zuordnung von Meldungen an die Berufsgenossenschaften erforderlich ist.

Stand: 01.01.2023

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Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitszeiterfassung

Leitsatz: Drei Monate nach seiner viel diskutierten Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Entscheidungsgründe veröffentlicht (BAG, Beschluss vom 13.09.2022, Az.: 1 ABR 22/21). Danach ist klar: Arbeitszeiten sind ab sofort zu erfassen.

Ein Tätigwerden des Gesetzgebers ist diesbezüglich nicht mehr notwendig. Nicht geregelt bleibt aber weiterhin, ob die Pflicht zur Zeiterfassung auch für leitende Angestellte im Sinne des § 5 Abs. 3 BetrVG besteht und in welcher Form die Zeiterfassung erfolgen muss.

Ausgangspunkt

Ausgangspunkt der Entscheidung war der Antrag eines Betriebsrates auf Mitbestimmung zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems. Der Betriebsrat bezweckte die gerichtliche Feststellung, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zustehe. Das Landesarbeitsgericht Hamm hatte dem Antrag des Betriebsrates in seinem Beschluss vom 27.07.2021, 7 TaBV 79/20 stattgegeben. Die hiergegen eingelegte Rechtsbeschwerde hatte Erfolg, allerdings mit einer anderen Begründung als erwartet.

Entscheidung des BAG

Das BAG  stellte in seiner Entscheidung fest, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nur bestehe, sofern keine gesetzlichen oder tariflichen Regelungen existieren. Eine solche gesetzliche Regelung sieht das BAG hinsichtlich der Erfassung der Arbeitszeiten in § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Danach sei bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG jeder Arbeitgeber gesetzlich zur Erfassung der Arbeitszeiten seiner Arbeitnehmer verpflichtet.

Bedeutung für die Praxis

1. Erfassungspflicht

Ähnlich wie der Europäische Gerichtshof in seinem Stechuhr-Urteil ist also auch nach Auffassung des BAG Zeiterfassung eine Maßnahme des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Legt man § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG unionsrechtskonform (unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils zur Arbeitszeiterfassung) aus, ist auch die Arbeitszeiterfassung Teil der geeigneten Organisation des Arbeitsschutzes.

2. Aufzeichnungspflicht

Die Daten aus der Arbeitszeiterfassung müssen aufgezeichnet werden, damit die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zur Arbeitszeit (z.B. tägliche Höchstarbeitszeit, Pausenzeiten, Ruhezeiten etc.) überprüfbar sind. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden im Betrieb erfasst werden können.

Aus Arbeitgebersicht bedeutet dies zudem: Das zur Verfügung gestellte System zur Erfassung der Arbeitszeiten muss auch tatsächlich im Unternehmen verwendet und von den Arbeitnehmer*innen genutzt werden.

3. Gestaltung

Bezüglich des „Wie“ der Arbeitszeiterfassung besteht noch ein Gestaltungsspielraum. Voraussetzung ist allerdings immer die Verwendung eines objektiven und verlässlichen Systems. Das bedeutet, dass es nicht manipulierbar sein darf.

Statt einer Durchführung durch den Arbeitgeber selbst, kann eine Anweisung zur Selbstaufzeichnung an die Arbeitnehmer*innen erteilt werden. Die Zeiterfassung ist auch nicht zwingend elektronisch vorzunehmen, sondern kann derzeit noch auf Papier erfolgen. In diesem Fall ist jedoch darauf zu achten, dass die Aufzeichnungen mittels eines dokumentenechten Stiftes erfolgt (z.B. Kugelschreiber). Auch sollte sich der Arbeitgeber bewusst sein, dass eine Abzeichnung von „Stundenzetteln“ durch den Arbeitgeber grundsätzlich eine Duldung von Überstundenleistungen darstellt.

4. Umsetzung

Da das BAG seine Auffassung auf ein bereits bestehendes Gesetz stützt und zudem keine Übergangsfrist eingeräumt hat, ist die Arbeitszeit ab sofort zu erfassen.

5. Mögliche Ausnahmen

Wie dargestellt, stützt das BAG seine Entscheidung auf das Arbeitsschutzgesetz. Das Arbeitsschutzgesetz selbst schließt allerdings leitende Angestellte nicht von seinem Anwendungsbereich aus, sodass in der juristischen Literatur vertreten wird, dass der Beschluss des BAG dazu führt, dass auch leitende Angestellte Arbeitszeiten erfassen müssen.

Ob diese Ansicht rechtlich überzeugen kann, darf jedoch angezweifelt werden. Denn das BAG selbst verweist in seinem Beschluss nur auf „normale“ Arbeitnehmer nach § 5 Abs. 1 BetrVG, wohingegen kein Bezug auf leitende Angestellte genommen wird, die in § 5 Abs. 3 BetrVG definiert werden. Zudem verweist das BAG ausdrücklich darauf, dass die Richtlinien der Europäischen Union gewisse Ausnahmen von der Arbeitszeiterfassung durch den nationalen Gesetzgeber ermöglichen. Hiervon hat der Gesetzgeber bereits 1994 in § 18 Abs. 1 ArbZG auf Grundlage der damals geltenden Richtlinie 93/104/EG Gebrauch gemacht und leitende Angestellte ausdrücklich von der Anwendbarkeit des Arbeitszeitgesetzes ausgenommen.

Solange der deutsche Gesetzgeber die durch den EUGH vorgeschriebenen inhaltlichen Vorgaben zur Arbeitszeit nicht im Arbeitszeitgesetz –neu- geregelt hat, wird diese Frage nicht eindeutig beantwortet werden können.

Praxistipp:

Wir empfehlen, zunächst die Zeiterfassung für alle Arbeitnehmer*innen zumindest in Papierform anzuweisen. Hierzu sollte der Arbeitgeber Vorgaben hinsichtlich der festzuhaltenden (Mindest-)Daten machen, wie bspw. Beginn, Ende, Pause) und die Durchführung stichprobenartig kontrollieren.

Verfahrensgang:

BAG, Beschluss vom 13.09.2022, Az.: 1 ABR 22/21 

LAG Hamm, Beschluss vom 17.07.2021, Az.: 7 TaBV 79/20 

ArbG Minden, Beschluss vom 15.09.2020, Az.: 2 BV 8/20

Stand: 06.01.2023

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Verfall von Urlaub bei Krankheit

Sind Arbeitnehmer*innen dauerhaft erkrankt, können sich Urlaubsansprüche schnell addieren. Um dies zu verhindern, verfiel der gesetzliche Urlaubsanspruch bei Langzeiterkrankungen bislang spätestens 15 Monate nach Ablauf des entsprechenden Urlaubsjahres (15-Monatsfrist).

Das BAG (Urteil vom 20.12.2022, Az.: 9 AZR 245/19) hat seine Rechtsprechung hierzu nun geändert:

Bei Arbeitnehmer*innen, die erst im Laufe des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkranken, erlischt der Urlaubsanspruch aus diesem Jahr nur, wenn sie zuvor über den Urlaubsanspruch unterrichtet wurden.

Langzeitkrank und Urlaubsanspruch

Das BAG hatte 2022 (Urteil vom 20.12.2022, Az.: 9 AZR 245/19) zu entscheiden, ob einem Arbeitnehmer einer Flughafengesellschaft nach Ablauf seiner befristeten Erwerbsminderungsrente im Jahr 2019 noch Resturlaub aus dem Jahr 2014 zustand. Der Arbeitnehmer konnte vom 01.12.2014 bis mindestens August 2019 seine Arbeitsleistung wegen voller Erwerbsminderung nicht erbringen und somit auch seinen Urlaub nicht nehmen. Der Bezug der befristeten Erwerbsunfähigkeitsrente steht einer Langzeiterkrankung gleich.

Nach Auffassung des Arbeitnehmers sei sein Urlaub nicht verfallen, da sein Arbeitgeber nicht bei der Gewährung und der Inanspruchnahme des Urlaubs mitgewirkt habe.

Ohne Zutun des Arbeitgebers verfällt Urlaub nicht

Urlaubsansprüche erlöschen grundsätzlich nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG), wenn der Arbeitgeber die Arbeitnehmer*innen zuvor durch Erfüllung sog. Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzt hat, ihren Urlaubsanspruch wahrzunehmen, aber diese den Urlaub aus freien Stücken nicht genommen haben.

Rechtsprechungsänderung zum Verfall von Urlaub bei Arbeitsunfähigkeit

Bisher verfiel der gesetzliche Urlaubsanspruch bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit ohne weiteres mit Ablauf des 31.03. des zweiten Folgejahres (15-Monatsfrist). Diese Rechtsprechung hat das BAG aufgrund der Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 22.09.2022 (– C- 518/20 und C-727/20) nun weiterentwickelt:

Sind Arbeitnehmer*innen von Beginn eines Urlaubsjahres (01.01.) durchgehend bis zum 31.03. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert, ihren Urlaub anzutreten, verfällt der Urlaub weiterhin mit Ablauf der 15- Monatsfrist. Für diesen Fall kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist, weil diese nicht zur Inanspruchnahme des Urlaubs hätten beitragen können.

Haben die Arbeitnehmer*innen dagegen im Urlaubsjahr tatsächlich gearbeitet, setzt ein Verfall des Urlaubsanspruchs regelmäßig voraus, dass der Arbeitgeber die Arbeitnehmer*innen rechtzeitig vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in die Lage versetzt hat, ihren Urlaub auch tatsächlich zu nehmen.

Arbeitnehmer*in erhält Resturlaub

Im Fall des klagenden Arbeitnehmers ist damit der Resturlaubsanspruch für das Jahr 2014 in Höhe von 24 Arbeitstagen nicht erloschen, weil der Arbeitnehmer im Jahr der Erkrankung noch tatsächlich gearbeitet hat und der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten bis zum Beginn der Arbeitsunfähigkeit am 01.12.2014 nicht nachgekommen ist.

Praxistipp:

Welche Konsequenzen hat die Entscheidung des BAG für die Praxis? Sie als Arbeitgeber müssen künftig Folgendes beachten und Ihre Arbeitnehmer*innen entsprechend informieren:

  • Wie hoch ist der noch verbleibende konkrete Urlaubsanspruch? Differenzieren Sie bereits hier zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und dem zusätzlich vereinbarten Mehrurlaub (z.B. durch Arbeitsvertrag oder Betriebsvereinbarung). Europarechtliche und bundesgesetzliche Einschränkungen des Verfalls von Urlaub betreffen immer nur den gesetzlichen Mindesturlaub. Der Verfall von zusätzlich vereinbartem Mehrurlaub kann im Arbeitsvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung sowie einem Tarifvertrag gesondert geregelt werden.
  • Fordern Sie Ihre Arbeitnehmer*innen auf, die konkret bezifferten Urlaubstage noch bis zum Jahresende zu nehmen und weisen Sie darauf hin, welche Verfall- und Verjährungsfristen jeweils für den gesetzlichen Mindesturlaub und den zusätzlich vereinbarten Mehrurlaub gelten.
  • Der Hinweis muss so rechtzeitig erfolgen, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaub auch tatsächlich noch nehmen kann. Da eine Arbeitsunfähigkeit meist nicht vorhersehbar ist, sollten regelmäßige Intervalle zur Belehrung eingerichtet werden.
  • Die Belehrung muss vom Arbeitgeber zu Nachweiszwecken dokumentiert werden.

Verfahrensgang:

BAG, Urteil vom 20.12.2022, Az.: 9 AZR 245/19 

Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 7. März 2019, Az.: 9 Sa 145/17 

Arbeitsgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 13.12.2016, Az.: 3 Ca 8481/15

Stand: 03.01.2023

Ansprechpartner:

Sabine Stölzel (Link zur Berufsträgerseit(Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht)

Melanie Wilhelm (LL.M., Rechtsanwältin)

Kontaktdaten:

kontakt@stoelzel-gbr.de

+49 (0)351 486 70 70

 

Urlaub: Keine Belehrung – keine Verjährung

Urlaub verjährt nur dann, wenn der Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt wird und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Das hat das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 20.12.2022, Az.: 9 AZR 266/20 ) aktuell entschieden.

Hinweispflicht des Arbeitgebers?

Eine Angestellte einer Steuerkanzlei nahm über Jahre hinweg (1996 bis Mitte 2017) nur teilweise ihren Jahresurlaub in Anspruch. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses erhielt die Arbeitnehmerin eine Abgeltung für 14 Urlaubstage. Nach ihrer Ansicht waren allerdings noch weitere 101 Urlaubstage übrig, für die sie ebenfalls eine Abgeltung verlangte. Diese Forderung machte sie gerichtlich geltend. Der Arbeitgeber war dagegen der Auffassung, die Urlaubsansprüche seien bereits verjährt.

Mit dieser Argumentation hatte der Arbeitgeber vor dem BAG keinen Erfolg.

Keine Belohnung für Pflichtverletzung

Die Vorschriften über die Verjährung (§ 214 Abs. 1 BGB , § 194 Abs. 1 BGB) finden zwar grundsätzlich Anwendung auf den gesetzlichen Mindesturlaub. Bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 199 Abs. 1 BGB beginnt die regelmäßige Verjährungsfrist jedoch erst mit Schluss des Jahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub aus freien Stücken nicht genommen hat.

EuGH zur Verjährung von Urlaub

Mit der vorgenannten Rechtsprechung setzt das BAG die Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 22.09.2022, Az.: C-120/21 ) um. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Zweck der Verjährungsvorschriften die Gewährleistung von Rechtssicherheit. In der vorliegenden Fallkonstellation tritt dieser Zweck hinter dem Ziel von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zurück, die Gesundheit des Arbeitnehmers durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme zu schützen. Die Gewährleistung der Rechtssicherheit dürfe nicht als Vorwand dienen, um zuzulassen, dass sich der Arbeitgeber auf sein eigenes Versäumnis berufe, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich auszuüben. Der Arbeitgeber könne die Rechtssicherheit gewährleisten, indem er seine Obliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachhole.

Arbeitgeber kam Hinweispflicht nicht nach

In dem vom BAG (Urteil vom 20.12.2022, Az.: 9 AZR 266/20 )  zu entscheidenden Verfahren kam der Arbeitgeber diesen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nach, sodass die Ansprüche weder am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG ) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG ) noch mit Ablauf von drei Jahren verjährt sind.

Praxistipp:

Welche Konsequenzen hat die Entscheidung des BAG für die Praxis? Sie als Arbeitgeber müssen künftig Folgendes beachten und ihre Arbeitnehmer entsprechend informieren:

  • Wie hoch ist der noch verbleibende konkrete Urlaubsanspruch? Differenzieren Sie bereits hier zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und dem zusätzlich vereinbarten Mehrurlaub (z.B. durch Arbeitsvertrag oder Betriebsvereinbarung). Europarechtliche und bundesgesetzliche Einschränkungen des Verfalls von Urlaub betreffen immer nur den gesetzlichen Mindesturlaub. Der Verfall von zusätzlich vereinbartem Mehrurlaub kann im Arbeitsvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung sowie einem Tarifvertrag gesondert geregelt werden.
  • Fordern Sie Ihre Mitarbeiter*innen auf, die konkret bezifferten Urlaubstage noch bis zum Jahresende zu nehmen und weisen Sie daraufhin, welche Verfall- und Verjährungsfristen jeweils für den gesetzlichen Mindesturlaub und den zusätzlich vereinbarten Mehrurlaub gelten.
  • Der Hinweis muss so rechtzeitig erfolgen, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaub auch tatsächlich noch nehmen kann.
  • Die Belehrung muss vom Arbeitgeber zu Nachweiszwecken dokumentiert werden.

Verfahrensgang:

BAG, Urteil vom 20.12.2022, Az.: 9 AZR 266/20 

LAG Düsseldorf, Urteil vom 21.02.2020, Az.: 10 Sa 180/19 

Arbeitsgericht Solingen, Urteil vom 19.02.2019, Az.: 3 Ca 155/18 

Stand: 23.12.2022

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Corona-Prämien sind nicht pfändbar

 

Auch außerhalb des Pflegebereichs zahlen Arbeitgeber ihren Beschäftigten zum Ausgleich für Belastungen durch die Corona-Pandemie Prämien.

Ob diese Prämien bei Insolvenz des Arbeitnehmers gepfändet werden können oder nicht, war bislang streitig. Nun hat sich das Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 25.08.2022 (Az.: 8 AZR 14/22) dazu geäußert.

 

Gaststättenbetreiber zahlt Corona-Prämie an Küchenhilfe

Ausgangspunkt war eine Corona-Prämie in Höhe von EUR 400,00, die ein Gaststättenbetreiber im September 2020 an seine Küchenhilfe gezahlt hat. Über das Vermögen der Arbeitnehmerin wurde bereits im Jahr 2015 das Insolvenzverfahren eröffnet und eine Insolvenzverwalterin bestellt. Aus Sicht der Insolvenzverwalterin ergab sich durch die gezahlte Corona-Prämie für den Monat September 2020 ein pfändbarer Betrag in Höhe von EUR 182,99 netto, den die Insolvenzverwalterin herausforderte. Denn nach Ansicht der Insolvenzverwalterin bestehe für eine solche Sonderzahlung wie hier keine Regelung über eine Unpfändbarkeit. Der Gesetzgeber habe insoweit lediglich bestimmt, dass die Zahlung bis zu einer Höhe von EUR 1.500,00 steuer- und abgabenfrei sei. Die vom Beklagten gezahlte Corona-Prämie sei auch keine, nach § 850a Nr. 3 ZPO unpfändbare Erschwerniszulage.

Corona-Prämie dient als Kompensation der Erschwernis

Das Bundesarbeitsgericht sieht das – wie bereits die Vorinstanzen – anders. Nach der Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts hat die Insolvenzverwalterin keinen Anspruch auf Zahlung des von ihr geforderten Betrags. Denn der Gaststättenbetreiber beabsichtigte, mit der gezahlten Corona-Prämie ein für die Arbeitnehmerin bei der Arbeitsleistung tatsächlich gegebenes Erschwernis zu kompensieren. Die Corona-Prämie gehört damit gem. § 850a Nr. 3 ZPO nicht zum pfändbaren Einkommen, solange sie den Rahmen des Üblichen nicht übersteigt.

Verfahrensgang:

BAG, Urteil vom 25.08.2022, Az.: 8 AZR 14/22
LAG Niedersachsen, Urteil vom 25.11.2021, Az.: 6 Sa 216/21
ArbG Braunschweig, Urteil vom 10.03.2021, Az.: 4 Ca 515/20

Stand: 21.09.2022

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Urlaub oder Quarantäne?

Müssen Urlaubstage im Fall der Quarantäne des Arbeitnehmers während seines genehmigten Urlaubs nachgewährt werden, auch wenn der Arbeitnehmer nicht arbeitsunfähig ist?

Diese Frage haben sich bereits mehrere Landesarbeitsgerichte stellen müssen und bislang einheitlich entschieden: Fällt die Quarantäne in den Zeitraum des genehmigten Urlaubs müssen Urlaubstage nicht nachgewährt werden. Denn es liegt keine Arbeitsunfähigkeit vor.

Das Landesarbeitsgericht Hamm (Urteil vom 27.01.2022, Az.: 5 Sa 1030/21)  sieht das anders und hat nun der Klage eines Arbeitnehmers stattgegeben und ihm die in den Zeitraum der Quarantäne fallenden Urlaubstage zugesprochen. Da das Urteil des Landesarbeitsgericht Hamm von den Urteilen anderer Landesarbeitsgerichte abweicht, wurde die Revision zum Bundesarbeitsgericht gem. § 72 Abs. 2 Ziff. 1, 2 ArbGG zugelassen. Die Revision wurde eingelegt, sodass das Verfahren nunmehr beim Bundesarbeitsgericht anhängig ist. Das Bundesarbeitsgericht hat am 16.08.2022 ein Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof eingeleitet, um die Frage aus unionsrechtlicher Sicht klären zu lassen.

Urlaub während einer Covid-19-Quarantäne, wenn keine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorliegt

Der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hamm liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Arbeitnehmer war beim Arbeitgeber als Schlosser beschäftigt und musste sich im Oktober 2020 als Kontaktperson aufgrund einer behördlichen Anordnung in Quarantäne begeben. In diesem Zeitraum lag auch der genehmigte Urlaub des Arbeitnehmers. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung legte der Arbeitnehmer für den Zeitraum der Quarantäne nicht vor. Der Arbeitgeber sah die Urlaubstage während der Quarantäne als genommen an. Daraufhin verlangte der Arbeitnehmer vor dem Arbeitsgericht die Nachgewährung seiner Urlaubstage für den Zeitraum der Quarantäne.

Keine Gutschrift von Urlaubstagen während der Quarantäne

Das Arbeitsgericht Hagen (Urteil vom 28.07.2021, 2 Ca 2784/20) wies die Klage in erster Instanz ab. In der Berufungsinstanz vor dem LAG Hamm (Urteil vom 27.01.2022, Az.: 5 Sa 1030/21) hatte der Arbeitnehmer dagegen Erfolg.

Analoge Anwendung von § 9 BUrlG 

Nach Ansicht des LAG Hamm (Urteil vom 27.01.2022, Az.: 5 Sa 1030/21)  ist eine analoge Anwendung von § 9 BUrlG geboten. Es bestehe eine planwidrige Regelungslücke des Gesetzgebers und eine vergleichbare Interessenlage wie bei einer Erkrankung des Arbeitnehmers. Denn eine Erholung des Arbeitnehmers sei durch die Quarantäneanordnung unmöglich, da der Arbeitnehmer erheblich in seiner Freizeitgestaltung eingeschränkt sei und zudem jederzeit mit einem Krankheitsausbruch rechnen müsse. Der Arbeitnehmer sei krankheitsähnlich an der Wahrnehmung seines Urlaubs gehindert. Die Anordnung einer Quarantäne steht damit einer freien, selbstbestimmten Gestaltung des Urlaubszeitraumes diametral gegenüber, unabhängig davon, wie der einzelne Betroffene diese persönlich empfindet.

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH

Das Verfahren ist derzeit beim Bundesarbeitsgericht anhängig, das ein Vorabentscheidungsersuchen (BAG, Beschluss vom 16.08.2022, Az.: 9 AZR 76/22) an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet hat. Er soll die Frage beantworten, ob aus dem Unionsrecht die Verpflichtung des Arbeitgebers abzuleiten ist, einem Arbeitnehmer bezahlten Erholungsurlaub nachzugewähren, wenn der Arbeitnehmer zwar während des Urlaubs selbst nicht erkrankt ist, in dieser Zeit aber eine behördlich angeordnete häusliche Quarantäne einzuhalten hatte.

Verfahrensgang:

BAG, Beschluss vom 16.08.2022, Az.: 9 AZR 76/22

LAG Hamm, Urteil vom 27.01.2022, Az.: 5 Sa 1030/21

ArbG Oberhausen, Urteil vom 28.07.2021, Az.: 3 Ca 321/21

Praxistipp:

Die durchgehende Rechtsprechung der Landesarbeitsgerichte lehnt die Ansicht des LAG Hamm bislang ab und erkennt keine Vergleichbarkeit zwischen der Quarantäne und der Erkrankung eines Arbeitnehmers in Bezug auf die Gewährung von Urlaub. Ob das der EuGH auch so sieht, bleibt abzuwarten.

Weiteres zum Thema Urlaub und Quarantäne:

Stand: 16.09.2022

Ansprechpartner:

Sabine Stölzel (Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht)

Melanie Wilhelm (LL.M., Rechtsanwältin)

Kontaktdaten:

kontakt@stoelzel-gbr.de

+49 (0)351 486 70 70